Es ist eine Binsenweisheit, dass es unterwegs mehr zu sehen gibt, wenn man Autobahnen vermeidet. Trotzdem ignoriere ich viel zu oft, was links und rechts des endlosen Asphaltbands liegt. Man hat ja meistens keine Zeit. Letztens ausnahmsweise schon.

Der Anlass, der es mir ermöglichte, meinen Horizont zu erweitern: Das Motorrad-Reise-Treffen in Gieboldehausen, das ich ehrlicherweise erst seit kurzem kenne, auch wenn es das schon seit 1997 gibt. Es war außerdem eine Möglichkeit, private und berufliche Interessen zu vereinen. Mit der GS standesgemäß angezogen, nahm ich mir bereits Donnerstagnachmittag Zeit, um ein paar Kilometer zu machen. Damit hatte ich auch noch den kompletten Freitag Zeit, die Autobahnen Richtung Norden komplett links (oder rechts) liegen zu lassen. Grobes Tagesziel: Lichtenfels.
Und damit übergab ich einen Teil der Planung an mein Garmin ab, das mich zumindest schon mal interessant aus dem Landkreis herausführte. Später landete ich dann unweigerlich auf der Deutschen Hopfenstraße, auf der ich zwischen 2007 und 2010 so gut wie jede Woche unterwegs war. Nur, dass ich dieses Mal nicht bei Elsendorf auf (oder von) der A 93 fahren würde. So weit, so bekannt. Und weitestgehend unspektakulär. Auf der B 299 ging es dann relativ entspannt weiter und wurde ab Beilngries sogar ein wenig idyllisch: Links parallel die Altmühl, ab und zu mal ein Kloster, entspannter Verkehr. So dümpelte ich bis Neumarkt und in den Nürnberger Speckgürtel, kam beim Bauimperium Max Bögl vorbei und freute mich ab Altdorf so langsam auf die fränkische Schweiz, die Mister Garmin zumindest berücksichtigt hatte. Endlich ließ ich die größeren Schnellstraßen hinter mir, wobei es selbst relativ viel zu sehen gab. In Hiltpoltstein (und seiner Burg) hätte ich fast einen Fotostopp eingelegt, aber nur fast. Nach einer Umleitung (ungefähr die fünfte an diesem kurzen Fahrtag) legte ich einen weiteren Müsliriegel-und-Trink-Stopp ein, bei dem ich mal checken wollte, welche Campingplätze in Frage kämen. Nachdem ich wieder im Sattel saß, ignorierte ich die renitente Garmin-Empfehlung und folgte einer kleinen Straße, auf der ich merkte, dass ich in der fränkischen Schweiz angekommen sein musste: Es wurde felsiger, hügeliger und schwer idyllisch. Mit „Hollfeld“ als Ziel hatte ich es auch nicht mehr weit. Im Auf und Ab des grünen Hügelmeers hatte ich die Straße meistens für mich allein und konnte die schon arg eckig gefahrene Reifenmitte etwas schonen. Das postkartentaugliche Pottenstein würde ich wann anders mit eigenen Augen sehen müssen, aber immerhin kreuzte ich Gößweinstein, wo ich schon mal bei anderer Gelegenheit war. Schnell kam ich nach Hollfeld, wo ich noch auftankte, um in der Früh nicht sofort nach einer Zapfsäule suchen zu müssen. Danach versuchte ich vergeblich, eine Straßensperre und deren Umleitung auszutricksen. Egal. Die richtige Umleitung brachte mich immerhin durch ein etwas heruntergekommenes Dörfchen, das dank viel Fachwerk und teils in den Felsen gebauten Häusern trotzdem einen gewissen Charme hatte. Das Beste kam an diesem Tag zum Schluss: Weit geschwungene Kurven, links bewaldete Felsen, rechts ein kleiner Fluss und weitflächige Wiesen. Erinnerte mich irgendwie an die Doubs-Region. Statt wie früher 24 Stunden im Voraus zu buchen, rollte ich an diesem Abend spontan und völlig frei auf den Campingplatz, auf dem schon ein paar Wohnwagen und Vanlife-Mobile standen. Ich fand ein Plätzchen mittendrin und baute meine zeltgewordene Antithese zu all den Luxus-Behausungen um mich herum auf. Freute mich über eine warme Dusche und noch mehr über meine Tortellini, die ich in einer Fertig-Arrabbiata-Sauce zubereitete.
Der zweite Tag meines Kurzurlaubs begann einigermaßen routiniert, zumindest bis sämtliche Streichhölzer aller drei Packungen (don’t ask) versagten und der Kaffee in der Bialetti trocken blieb. Schon in Motorradstiefeln (Ende August ist es morgens und abends ja durchaus etwas klamm) steuerte ich auf das Camper-Pärchen gegenüber zu, die mir schon gestern ganz sympathisch waren. Sofern man das vom Leute beobachten so sagen kann. Ein Feuerzeug hatte das fränkisch-englische Paar zwar nicht, aber einen Feuerstein, der meinen Gaskocher aber genauso gut entzündete. Wieder was gelernt. Sowas hab ich ja sogar in der Schublade liegen, aber beim Moto-Camping hatte ich dann doch immer lieber Feuerzeug oder Streichhölzer dabei. Einem gelungenen Start in den Tag stand damit nichts mehr im Wege, auch keine Rechnung, denn die 14 Euro hatte ich gestern schon bezahlt. Meine Tour ging so weiter, wie sie am Vortag endete: Mit weiten Bögen am Fluss entlang. Dann steuerte ich auf den Würgauer Berg zu, der am Wochenende für Motorräder gesperrt ist. Thank God it’s Friday. Wirklich spektakulär war die Strecke allerdings nicht, aber gut, in Mittelgebirgslagen nimmt man, was man kriegt. Mittlerweile war ich tief in der oberfränkischen Provinz in all ihrer Idylle, ratterte über Kopfsteinpflaster in Kleukheim, vorbei an einer herausgeputzten Kirche und hübschen Fachwerkhäusern, ein kleiner Bach direkt an der Hauptstraße machte das Bild perfekt. Noch schöner wäre es vielleicht an einem verschneiten Winterabend. Zwischendurch war ich dann auch unbeabsichtigt auf der Deutschen Fachwerkstraße unterwegs, nach Abschnitten auf der Hopfenstraße und Limes-Straße schon die dritte Ferienstraße.
Und so überquerte ich die Grenze nach Thüringen, ohne es zu merken, denn auch hier reihte sich ein schmuckes Fachwerkdorf an das nächste. Allerdings: Spätestens die Wahlplakate verrieten irgendwann, dass ich nicht mehr in Bayern unterwegs war. Was mir, abgesehen vom Fachwerk, sofort auffiel: Der ohnehin geringe Verkehr nahm noch weiter ab. Und: Es ging rauf und runter in einer überraschend weitläufigen Landschaft, die mir deutlich dünner besiedelt vorkam, als viele andere Teile Deutschlands. Was wohl auch so sein wird. So kam ich dann irgendwann nach Meiningen, ein Ort, von dem ich noch nie etwas gehört hatte, der mir aber unglaublich groß vorkam. Lag vielleicht auch an einer weiteren Umleitung, die mir wieder ein paar sinnlose Kilometer einbrachte. Aber abgesehen vom schwer sozialistisch angehauchten Ortsschild gefiel mir das alles echt gut, das Ortsbild war spätestens hier spürbar anders, im positiven Sinne. Wie auf einer Prachtstraße kam ich an einem Park und am mächtigen Staatstheater vorbei. Zum ersten Mal auf meiner (ach so langen) Tour hatte ich das Gefühl, ein Reisender zu sein, der alles aufsaugt, was er sieht, riecht und hört. Und irgendwann auch Hunger hatte und Gefahr lief, mal wieder an allen Gelegenheiten vorbeizufahren. Also folgte ich unrühmlicherweise den Schildern zum McDonalds. Was der Bauer nicht kennt… egal. Die Folgeetappe lotste mich das Navi über eher langweilige Bundesstraßen bis nach Eisenach, wo richtig was los war, es aber selbst im Durchfahren viel zu Sehen gab. Mit noch mehr Zeit im Gepäck wäre das sicher auch mal einen Zwischenstopp wert. So beschränkte ich mich auf Sight-Seeing im Drive-By-Modus. Bei Nazza (nicht Nizza) erlaubte ich mir eine Kurskorrektur und schraubte mich ein paar Serpentinen lang höher in den Thüringer Wald. So weit war das Motorrad-Reise-Treffen gar nicht mehr entfernt. Daher hatte ich auch genügend Zeit festzustellen, dass sich zwischendurch das Wort „Deutschland“ ins Garmin-Display schob. Okay, wird halt ein kurioser Name eines Kuhkaffs sein. Bis ich dann über ein Schild stolperte, das den geografischen Mittelpunkt Deutschlands hier verortete. Ich leistete mir den Abstecher, auch wenn ich dort genau fand, was ich erwartet hatte: Einen großen Felsen mit Inschrift und eine Infotafel. Und natürlich: Zwei Rad-Reisende, die allzu witzigen Fotoideen im Wege standen. Nachdem ich die beiden (vermutlich Vater und Sohn, wobei der Senior sympathisch, der Junior sehr wortkarg war) fotografiert hatte, erfuhr ich auch, dass es wohl insgesamt neun Mittelpunkte gäbe, die alle ihre Berechtigung hätten. Und die beiden würden gerade alle abfahren. Ahja. Man braucht halt immer irgendeinen Grund für eine Reise… nach vielen Dörfern, Kleinststraßen und Überlegungen, wie viel DDR man hier noch sehen würde, landete ich wieder auf einer großen Bundesstraße, die sich wieder über eine weitläufige Hügellandschaft schlängelte. Wieder wirkte die Szenerie spektakulärer auf mich, als sie sollte. Als ich durch Duderstadt rollte, war ich ungefähr dort angekommen, wo man wohl das beste Hochdeutsch sprechen soll. Ein paar Minuten später kam ich in Gieboldehausen an und rollte in den Check-In des Reisetreffs. Die schon jetzt über hundert bekofferten Reiseenduros waren ein harter Kontrast zu den vielen Stunden, die ich relativ einsam unterwegs war.
Mit meinen Erfahrungen hätte ich jetzt nicht unbedingt mit den Reisevorträgen und Erzählungen mithalten können, die einen auf dem MRT so umgaben. Aber für mich waren diese zwei halben Tage deutlich voller, als sie es sein sollten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich plane jetzt keinen Urlaub in Thüringen, und doch war es nett, mal etwas mehr aufgesogen zu haben, als man von der A 9 aus sieht. Abgesehen davon war ich lediglich mal in Erfurt, was auch nicht wirklich zählt, denn mehr als das Radisson Blu und die Kaserne habe ich da auch nicht gesehen. Genauso nett: Die fränkische Schweiz und die hübschen Fachwerkstädtchen entlang der Route. „Es ist eine Binsenweisheit, dass es unterwegs mehr zu sehen gibt, wenn man Autobahnen vermeidet.“ Und trotzdem blieb ein Aha-Effekt nicht aus. Genauso wie der Vorsatz, das nächste Mal doch ein wenig mehr Zeit einzuplanen, und auch An- und Abreise mit möglichst abwechslungsreicher Landschaft vor dem Lenker zu füllen. Auch wenn ich am Sonntag wieder komplett auf der Autobahn zurückgefahren bin. Zunehmend genervt von der drögen Fahrt, mit Nackenschmerzen und Landstraße allenfalls am Anfang und Ende der fast 500 Kilometer langen Rückfahrt. Ich hatte halt keine Zeit…